Vom Auftauchen und Verschwinden

Volk und Pop – Vereinheitlichung und Kommerzialisierung

Ich habe im vorigen Abschnitt das Auftauchen des Klangs als musikalischen Einfall besprochen. Damit ist das Verschwinden der Melodie verbunden. Das soll jetzt nicht heißen, dass überhaupt keine melodischen Bestandteile der Musik mehr aufzufinden werden, aber sie haben ihre gestalterische Kraft verloren. Dennoch bleiben die Formen, in denen die Melodien einst angesiedelt, erhalten. Ich spreche dabei nicht von der Pflege romantischer Musiktraditionen oder des Kunstlieds oder der Oper, hier haben wir es kaum mit zeitgenössischen Hervorbringungen zu tun. Ich spreche von der Musik der Popkultur. Popkultur oder Popkunst nistet sich dort ein, wo der Anspruch nach gehobener Unterhaltung, auch nach intellektueller Herausforderung, sich nicht mit avantgardistischen Strömungen verbindet, sondern auf traditioneller Vorlage abgehandelt wird. Wer also sein Schlafzimmer schmücken will und wem dabei der Röhrende Hirsch zu banal, Paul Klee aber zu unverständlich ist, der greift zu einer Reproduktion eines Warhol-Siebdrucks oder eines Hundertwasser-Gemäldes.
                       
Pop hat nichts Revolutionäres an sich. Im Fall der Malerei begnügt sich Pop mit der Hervorbringung von Tafelbildern, in der Literatur mit dem Verfassen von Romanen. Experimente mit neuen Formen der Kunst sind ihm fremd. Aber das Publikum kann – auf vertrautem Terrain – gehobenere Ansprüche befriedigen, sich dem Kitzel des Bildungsbürgertums hingeben, wo sein erworbenes Materialwissen gefragt ist, und durchaus um den Vorrang verschiedener Stilrichtungen streiten, ohne sich dabei der oft anstrengenden Kenntnis der akademischen Kunst auszusetzen. Im Fall der Popmusik ist die Folie, auf der die künstlerischen Arbeiten aufgetragen werden, das Strophenlied. Mehr bringt Popmusik nicht hervor.

Dennoch finden wir auch bei der Popmusik den Einfluss der Entwicklungen aus der Symphonik wieder. So lässt sich auch hier der Verlust der Melodie beobachten. Sie wird aber nicht durch den Klang als musikalische Idee, als kompositorischen Einfall, sondern eher durch die Aufmachung und das Erscheinungsbild der InterpretInnen ersetzt. Bei der Eintönigkeit des melodischen Geschehens also machen die Ausstattung und das Auftreten ein Großteil des musikalischen Geschehens aus. Zwar stehen hinter diesen künstlerischen Hervorbringungen oft gar nicht so kleine kommerzielle Musikindustriebetriebe, trotzdem erinnert das Erscheinungsbild an die Ich-AG. Als ökonomische und auch sonst subjektive Daseinsform der vereinzelten Leute der bürgerlichen Gesellschaft (und Geselligkeit) wird sie propagiert und bringt doch neben ökonomischer und existenzieller Gleichförmigkeit nichts hervor als das verzweifelte und ohnehin unmögliche Einlösen der ideologischen Forderung nach Unverwechselbarkeit, nach den eigenen großartigen Vorzüge, nach einer unbestreitbaren Originalität.

Diese Vereinheitlichung hin zur Verwechselbarkeit entspricht aber immer noch der Ausrichtung von Popkunst: bekannte traditionelle Form anspruchsvoll aufgeladen mit bekannten traditionellen Inhalten in einem modernen Gewand in moderner Umgebung. Die anspruchsvolle Auseinandersetzung spielt sich dann rund um die verwechselbaren Stücke und Stile ab. Darin hebt sich Popmusik auch von der so genannten Schlager- oder volkstümlichen Musik ab, wenngleich die Übergänge und Unterschiede fließend sind. Das zeigt schließlich schon der Name. Pop ist aus dem englischen „popular“ abgeleitet, was aber weder mit volkstümlich noch mit populär richtig übersetzt wird. Pop schillert. Und nicht nur zwischen dem kommerziellen Erfolg und der anspruchsvollen künstlerischen Auseinandersetzung, sowohl was Publikum als auch was die ProduzentInnen betrifft.

Manchmal macht die Betonung des Kommerziellen die musikalische Hervorbringung verdächtig und den KünstlerInnen wird vorgeworfen, sie würden ihre Anfänge verraten. Dass hier das Klischee des armen Poeten ungeniert auf die Popkunst übertragen werden kann und dort genauso wirkt wie in der so genannten ernsten Musik, zeigt auch nur, dass im Betrieb die gleichen Mechanismen gelten. Das bestätigt auf s Schönste die Tatsache, dass – fernab von aller Ironie – Indiepop, Indierock, Indielabels, etcet. zum eigenen Stil innerhalb der Popkulturen und -schulen geworden sind. Und der Streit der Stile, Schulen und Kulturen, dem sich das Poppublikum so gerne hingibt, löst die inhaltliche und formale Verwechselbarkeit in keiner Weise: Ist jetzt Hubert von Goisern der Volksrocknroller oder ist es doch Andreas Gabalier?

Diese Hinwendung zum Volk ist aber urdemokratisches Verhalten und Anliegen, ist das Versprechen unserer bürgerlichen Gesellschaft, dass es ein jedes schaffen kann. Das Volk ist dann das Reservoir für dieses Versprechen: sei es als Masse von produzierenden Ich-Ag, die in der Pop- oder Schlagermusik als Unzahl dilettierender Gruppen existieren, sei es als zahlungskräftiges Publikum, das die Veranstaltungsorte füllt, von Clubs und Festen bis zu Stadthallen und Konzertsälen, vielleicht sogar Stadien, für die wenigen Erfolgreichen, die den Weg vom musikalischen Tellerwäscher zum Star geschafft haben.